Tief im Innern verwundet

Wie geht man mit dem Schmerz um? Zandile, eine junge Frau aus Kapstadt, wurde vergewaltigt, weil sie lesbisch ist. Ein Bericht
INHALTSWARNUNG: Schilderung von Vergewaltigung.

Es ist schon viele Jahre her, aber vergessen kann ich es trotzdem nicht.

Es ist eines der Dinge, auf die „wir“ vorbereitet sind, und über die wir dann doch nie hinweg kommen. Du weißt dein ganzes Leben lang, dass es passieren kann, und wenn es dann tatsächlich passiert, macht es aus deinem Leben einen Scherbenhaufen. Mir ist es passiert und es ist vorbeigegangen. Aber es ist wie bei einem zerbrochenen Spiegel: Du kannst die Scherben wieder zusammensetzen, aber die Risse wirst du immer sehen.

Ich erinnere mich noch an das Gefühl, das durch jedes Atom meines Körpers schoss. Es war eine hypnotische Mischung aus widersprüchlichen Emotionen, die das Adrenalin durch meine Venen pumpte, als er mich berührte. Seine geröteten, geschwollenen Augen, so voller Hass, alarmieren jeden Nerv in meinem Körper. Sein Blick, sein Stöhnen, als er meine Handgelenke packt, damit ich ja nicht entkomme. Meine Augen, die hektisch einen Halt suchen, der mir Mut, Kraft oder sogar Hoffnung gibt, dass ich mich befreien kann. Ich fühle mich so machtlos, doch ich bringe ein Lächeln fertig, das die Angst in meinen Augen verbergen soll. Ich sehne mich nach jemandem, der mich rettet. Meine Augen schließen sich langsam, als ich verstehe, dass der Retter nicht kommen wird. Ich hoffe, dass ich das irgendwie überstehen werde. Wie kann man den Tag vergessen, an dem man wie auf einer Achterbahn von ganz oben in den allertiefsten Abgrund saust?

Es war der Beginn meines ewigen Albtraums. Meine größte Angst wurde Wirklichkeit, als er mir die Unterwäsche vom Körper riss und mir ins Ohr flüsterte: „Ich habe eine Überraschung für dich. Ab heute wirst du nicht mehr so durcheinander sein. Ndibuyisa indebe endala. Nichts mehr mit Mandela-Kind, nichts mehr mit Demokratie. Heute gibt es nur mich und dich, Adam und Eva.“

Ich dachte nur an eines: mich wehren. Aber er war ein Mann. Er war körperlich viel stärker als ich. Ingqondo yam yayithatha ibeka währenddessen rast mein Herz, denn jetzt wird mir klar: Etwas geht gerade schrecklich schief, aber es gibt kein Halten mehr. Eklig leckt er meinen Hals, steckte seine Finger in mich. Ich spüre sie, wie er sie hineinzwängt, seine Nägel meine Scheidenwände zerkratzen. Minuten später ist es sein Schwanz. Das Gefühl dieses Stocks, der in mich dringt, mich zerreißt. Zivakele izingqi zovalo lwam zifuna ukukrazula isifuba. Salandela isikhalo sentlungu yam sisihla ngomcancatho als er seinen Schwanz immer wieder in mich hineinstößt. Ndandikhala, nditabalaza ich hoffe, er hört auf …aber er hört nicht auf. Als ich beginne, im Schmerz zu versinken, packt er mich plötzlich noch heftiger, stößt immer heftiger. Ich schreie, als ein unerträglicher Schmerz durch meinen Unterkörper jagt. Er stößt, immer weiter, immer härter. Ich zerkratze ihm den Rücken, versuche mit aller Kraft, ihn wegzudrängen. Und dann war alles vorbei. Er lag auf mir. Ich spürte seinen warmen, schweren Atem an meinem Hals, schmeckte sogar seinen salzigen Schweiß. Sein beißender Geruch quälte meine Nase. Er sah mich an, gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann stand er auf.

Wie konnte er mein Selbstwertgefühl, mein Ego, meine Integrität, mein Vertrauen so verletzen. Innerhalb von Sekunden zerstörte er das, was ich mir über Jahre aufgebaut hatte. Ich spürte, wie die Tränen über meine Wangen und meinen Hals rannen, einen salzigen Geschmack in meinem Mund hinterließen. Mein Körper schmerzte, meine „Reinheit“ und meine „Unschuld“ waren verloren. Er hatte mich getötet. Angeekelt, wütend, voller Scham versuchte ich zu sprechen, aber ich brachte kein Wort heraus. Ich dachte an Asi, Andy und Luleka – Lesben, die vergewaltigt worden waren. Was sollte ich tun? Ich betete zu Gott, er möge mir helfen. Dann sank ich in tiefste Verzweiflung. Qual und Verwirrung vermischten sich mit Frustration, Trauer, Schmerz.

Dann fühlte ich das Blut, wie es meine Schenkel hinablief, in die Baumwollbezüge sickerte, sie dunkelrot färbte. Als das Handtuch aus meinen zitternden Händen glitt, blickte ich in den Spiegel an der Wand neben mir. Ich konnte mich nicht an die „Unschuld” und die „Reinheit“ erinnern. Er sagte, ich solle mich beeilen, es sei schon spät und er müsse noch mit mir reden. Da verstand ich: Er hatte keine Ahnung, was er mir angetan hatte.

„Hör’ mal, Joe, das war doch keine Vergewaltigung. Ich habe dir doch nur einen Gefallen getan. Du wirst nie ein Mann sein, also hör auf mit der Schauspielerei, geh‘ nach Hause und freue dich an deiner Weiblichkeit.“ Ich war fassungslos. Der Typ hatte Nerven. Wie konnte er so gefühlskalt sein? Verstand er nicht, was er mir angetan hatte? Aber für Fragen war dies nicht der richtige Ort und nicht der richtige Zeitpunkt. Ich musste aufstehen. Ich musste nach Hause gehen. Vielleicht würde ich dann aufwachen und erkennen, dass das alles nur ein Albtraum war.

„Hallo Wena, wo warst du denn? Mxm. Dein Essen steht im Ofen”, begrüßte mich meine Mutter, als ich zur Tür hereinkam. Ich hatte nicht die Kraft, ihr zu antworten. Ich ging direkt in die Küche, stellte den Kessel an, damit ich baden konnte. Ich wusch mich, schrubbte mich, ganz fest, damit jede Erinnerung an diesen Moment von meinem Körper gelöscht wird. Tränen strömten über meinen Körper, ich sehnte mich danach, dass jemand hereinkommt, mich fragt, ob alles ok ist mit mir. Wie konnte mein Leben, mein ganzes Leben, innerhalb von Minuten zerbrechen. Bilder der Vergewaltigung kamen zurück, immer wieder, zerstörten immer mehr von mir. Ich schrubbte mich wieder und wieder und dann fiel mir etwas ein, was mir schon häufig gute Dienste geleistet hatte und sich jetzt als echter Freund erweisen könnte. Als ich mich abtrocknete, hörte ich Michael Jacksons Will You be There? und kämpfte gegen die Versuchung, meinen „Freund“ um Hilfe zu bitten.

Im Schlaf folterten meine Schreie und mein Schmerz meine zerbrechliche Seele, ich musste etwas tun, das mir das Gefühl gab, noch zu leben. „Ich will mich nicht töten, ich will mich nur wieder lebendig fühlen“, sagte ich mir, als ich nach der Packung mit den Minora-Klingen griff. Als die Platinklinge meine Haut berührte, fühlte ich mich endlich wieder lebendig. Ich hatte das Gefühl, ich brenne. Und das war das Problem. Ich merkte erst, dass ich brannte, als das Feuer schon loderte.

Tag für Tag sah ich mir dabei zu, wie sich die Zandile, die alle kannten, weiter entfernte. Die lebhafte junge Frau, voller Ziele, die sich in Zeiten der Trauer ihrem Tagebuch anvertraut hatte, war zu einem Opfer geworden, zerstörte sich selbst. Ich wurde immer verbitterter, wenn ich daran dachte, dass ich vergewaltigt worden war, nicht von einem Fremden. Ich wurde süchtig nach Selbstverletzung, nicht anders als ein Heroin-Junkie. Ich wollte keinen Körperkontakt mit meiner Partnerin, denn nichts sollte mich an die Vergewaltigung erinnern.

Jeden Tag dankte ich den Minora-Klingen, die mich in eine Welt lockten, die frei war von Leid, Schmerz und Problemen. Ich begann, alle, die vorgaben, mich zu lieben und sich um mich zu sorgen, auszusperren, denn die Minora-Klingen gaben mir alles, was ich an Liebe und Umsorgtheit brauchte. Tag für Tag verkaufte ich meine Seele an den Teufel. Es gab kein Halten. Meine Welt schrumpfte, bis ich mich ganz leer und allein fühlte – allein unter Milliarden von Menschen. Mit jeder Tätowierung kam ich näher an den Abgrund. Mein Leben war ein Rätsel und mit dem Gedanken „Sein oder nicht sein …“ berührte ich die Hand des Todes. Mein Körper war voller Wunden, doch ihre Tiefe, ihr Schmerz war nichts im Vergleich zu den Wunden in meinem Herzen.

Noch heute kann ich es nicht fassen, dass es der älteste Bruder meiner Freundin war, der mir das angetan hat. Mir fällt kein Grund ein, der die Erinnerung, die in meinen Körper eingraviert ist, rechtfertigt. Was geschah damals? Wie konnte es geschehen und wie soll ich damit umgehen? Ich habe viele Erklärungen gehört, „Vergewaltigung ist etwas Gigantisches und man kann es nie akzeptieren“, schreibt  Alice von SARC in einem Artikel. Aber was ist mit der Selbstverletzung? Tag für Tag ging ich hoch erhobenen Hauptes, aber meine Gefühle sperrte ich in mir ein. Wahrscheinlich war meine Sehnsucht nicht so offensichtlich, wie ich gedacht hatte, denn niemand bemerkte etwas, bis zu dem Tag, an dem ich endlich darüber sprach, der Tag, drei Jahre danach, der Tag, an dem ich erfuhr, dass ich HIV positiv bin.

Ich starb langsam, und doch riss ich mich zusammen und lächelte. Ich litt, war verzweifelt, ich suhlte mich aber auch in meinem Leid, denn wie heißt es: Leid braucht Gesellschaft. Ich behielt alles für mich, denn ich dachte, für die anderen, sogar für meine Familie und Freunde, bin ich nichts als eine lesbische Statistik. Den Gedanken ertrug ich nicht, denn er fühlte sich an, als sei ein Stück meines Herzens begraben worden. Keiner würde verstehen, wie es sich anfühlt, eine Maske zu tragen und jedes Gefühl zurückzudrängen, als ob es nicht existieren würde.

Mit jeder Wunde, die in meinem Herzen brannte, wenn ich ihn sah, wurde ich zu einem Stück Fleisch, ohne Gesicht, ohne Herz. Ich fühlte nichts mehr, nur die bitteren Erinnerungen bewahrte ich ganz nah bei mir auf. Niemand, der nicht selbst plötzlich auf diesem Pfad ist, versteht, wie es sich anfühlt, als lesbisches Vergewaltigungsopfer gebrandmarkt zu sein.

Als mich das Virus krank machte und ich das Geschehene nicht länger verstecken konnte, entdeckte ich endlich, dass es auf dem Weg zwischen Erfolg und Versagen keine Umleitung gibt. Versagen ist lediglich ein Hindernis, das jeder auf dem Weg zu Wachstum und Erfolg überwinden muss. Als Samkelisiwe, die Liebe meines Lebens, zu mir sagte, „am Ende entscheidest du allein, wer du bist. Es liegt in deinen Händen”, erkannte ich, dass ich der Kapitän meines Schiffes bin. Ich musste entscheiden, ob ich wie ein typisches lesbisches Vergewaltigungsopfer oder wie ein Vergewaltigungsopfer leben wollte. Ich musste davon wegkommen, mein Stigma als Lesbe zu tragen, ich musste es als Mädchen tragen.

Auch wenn die anderen jetzt wissen, was damals geschah, für mich fühlt es sich immer noch an, als sei es gestern gewesen – der Schmerz, als er mich zerriss. Meine Wunden sind nicht geheilt, ich habe das Geschehene nicht akzeptiert, und jedes Mal, wenn mich jemand berührt, bluten meine Wunden und ich sehne mich nach der Geborgenheit der Minora-Klingen. Und dennoch: Ich weigere mich, den Weg weiterzugehen, den ich vor drei Jahren gegangen bin. Und falls du dich fragst, wie alt ich bin: Ich bin 18. Ja, es ist passiert, als ich 15 war. Und daher meine Botschaft an alle da draußen, die so sind wie ich: Blast kein Trübsal, weil ihr lesbisch seid, denn es gibt mehr im Leben, als Lesbe zu sein.

Dieser Text erschein unter dem Titel “Deep inside she bleeds” in dem Buch "Rivers of Life. Lesbian Stories and Poems", Südafrika 2013.


 

Über das Buch

Bei einem Projek

t in Zusammenarbeit der Heinrich-Böll-Stiftung mit Free Gender wurde eine Gruppe von Lesben und Trans*personen aus den Townships von Kapstadt darin geschult, Geschichten über ihr Leben zu schreiben. In diversen Workshops von November 2013 bis März 2014 lernten sie mit einer Autorin für manch Unsagbares Worte zu finden. Mit berührenden Gedichten und Kurzprosa verliehen sie sich selbst eine starke Stimme. Wie wichtig dies ist, betont die feministische Aktivistin Zethu Matebeni in der Einleitung: „Das Geschenk der Stimme kann Leben verändern“. Die Texte wurden in dem Buch „Rivers of Life –Lesbian Stories and Poems“ („Flüsse des Lebens – Lesbische Geschichten und Gedichte“) gesammelt herausgegeben und während der Tage des Aktivismus im November 2013 u.a. an nationale und internationale Institutionen verteilt.

 

Weiterer Text aus dem Buch